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«Das Können allein gibt auf Dauer keine Befriedigung»

Veröffentlicht am 13.05.2014
«Das Können allein gibt auf Dauer keine Befriedigung»
Karriere oder Selbstverwirklichung? Ken Robinson hat sich nie für das eine und gegen das andere entschieden. Seinen Interessen folgend, wurde er zu einem weltweit gefragten Experten in Bildungsfragen – geadelt durch den Ritterschlag von Queen Elisabeth II. Robinson kritisiert, viele Schulen seien heute noch wie Fabriken organisiert, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Industriegesellschaft.

Interview: Mathias Morgenthaler
Ken Robinson, Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch*, wie es gelingt, nicht nur einen Job zu machen, sondern begeistert zu leben und zu arbeiten. Worauf kommt es dabei primär an?
SIR KEN ROBINSON:
Wichtig ist, nicht nur darauf zu achten, was man gut kann, sondern auch zu berücksichtigen, was man wirklich gerne tut. Ich treffe im Berufsalltag so viele Menschen, die hoch kompetent sind in dem, was sie tun – nur geht ihnen leider jegliche innere Leidenschaft ab. Auf Dauer gibt es keine Befriedigung, etwas gut zu können, wenn man es nicht gleichzeitig liebt, wenn es nicht unser inneres Feuer nährt.

Für Kinder ist es der Normalzustand, etwas mit Leidenschaft zu tun – warum bleibt die Begeisterung später bei vielen auf der Strecke?
Als Kinder sind wir stark auf uns selbst bezogen. Erst mit der Zeit entwickelt sich das Bewusstsein, dass wir nicht das Zentrum der Welt sind, sondern dass wir uns in einem Umfeld bewegen, das Erwartungen an uns hat und Anpassung erfordert. Die grosse Gefahr besteht darin, dass wir uns zu stark von den Erwartungen anderer und von unserer Angst, zu scheitern, leiten lassen. Bei manchen Menschen kann man von aussen beobachten, wie sie sich mehr und mehr von ihrem Kern entfernen, während sie den Pflichten hinterherlaufen. So verlieren sie erst das Interesse und dann die Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Viele versuchen diese schmerzhafte Entfremdung mit materiellem Erfolg und Status zu kompensieren, aber diese Dinge schützen nicht vor Ernüchterung und depressiver Verstimmung. Aber ich kenne auch viele Erwachsene, die jeden Tag mit grossem Enthusiasmus zu Werke gehen.

Was zeichnet diese Menschen aus?
Sie vertrauen auf ihre Phantasie und Kreativität. Leider wird diese Fähigkeit nicht sehr gefördert, von vielen Eltern nicht und schon gar nicht von der Schule. Unser Schulsystem wurde in seinen Grundzügen in der Aufklärung konzipiert, es funktioniert nach der Fliessbandmentalität und passt perfekt ins Industriezeitalter. Die Schulen sind heute noch organisiert wie Fabriken: Das beginnt bei der Architektur, findet seine Fortsetzung in der Pausenklingel, in der strikten Aufteilung der Fächer und Einteilung nach Alter – als wäre das «Produktionsdatum» der wichtigste gemeinsame Nenner von Schülern. Alles läuft auf Konformität und Standardisierung hinaus. Die Schüler werden mit Wissen versorgt und lernen, dass es jeweils genau eine richtige Antwort gibt auf jede Frage.
 
Damit tun sie vielen Schulen unrecht.
Die Mehrheit der Schulen trägt zu wenig bei zum Wachstum der Persönlichkeit und zur Fähigkeit, kreativ mit Herausforderungen umzugehen. Was brauchen wir denn heute für Fähigkeiten? Müssen wir Akademiker sein und über lückenloses Faktenwissen verfügen? Eine der wichtigsten Fähigkeiten ist es, eine Fragestellung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das ist die Grundvoraussetzung für Kreativität und Innovation. Fördert die Schule dies? Eher nicht. Für die Längsschnittstudie «Break Point and Beyond» wurden 1600 Kinder im Kindergarten gefragt, wie viele Verwendungszwecke es für eine bestimmte Sache gibt. Das Resultat: 98 Prozent der 5-jährigen Kinder zeigten so viel Phantasie, dass man sie als Genies in divergentem Denken bezeichnen kann. Fünf Jahre später fielen gerade noch 32 Prozent in diese Kategorie. Im Alter von 14 Jahren waren es nur noch 10 Prozent, der grosse Rest antwortete sehr uniform.

Und Sie folgern daraus, dass die Schule unser Potenzial, kreativ zu sein, auf ein Minimum herabsenkt?
Das ist vermutlich der Preis, den wir für Konformität und Standardisierung bezahlen. Und dafür, dass wir den Unterricht immer stärker darauf ausrichten, was auf dem Arbeitsmarkt vermeintlich gefragt ist. In vielen Ländern werden die musischen Fächer mehr und mehr aus dem Stundenplan gestrichen: Musik, Film, Tanz, Literatur, Theater, all diese Themen, die unsere ästhetische Erfahrung erweitern und all unsere Sinne ansprechen, haben einen schweren Stand. Und gleichzeitig wundern wir uns, dass unsere Kinder Mühe haben, sich zu konzentrieren und dem Unterricht zu folgen. Natürlich leben sie in einer reizüberfluteten Welt, aber hat die rasante Verbreitung der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ADHS auch damit zu tun, dass die Schüler zu einseitig gefordert werden. Etwas überspitzt gesagt: Wir betäuben sie mit Ritalin, damit sie schadlos durch unser Schulsystem kommen.

Wie haben Sie nach der Schule Ihren Beruf und Ihre Berufung gefunden?
Ich hatte viele Interessen, aber keine Ahnung, was aus mir werden sollte. Auf der Schule gab es einen Berufsberater. Der riet mir, Zahnarzt oder Buchhalter zu werden, obwohl ich mich offensichtlich sehr für Englisch und Theater interessiert hatte an der Schule. Ich befolgte danach keine Ratschläge anderer, sondern achtete auf meine Interessen und auf Gelegenheiten. Offen gestanden hatte ich keinen Plan, aber ich wusste immerhin, was ich nicht wollte. Manche Jobs hätte ich gerne gehabt, bekam sie aber nicht – und begriff erst Jahre später, dass das gut war so. Wie sang der Country-Sänger Garth Brooks so schön: «Some of God's greatest gifts are unanswered prayers.» Oft ergeben sich die besten Gelegenheiten dann, wenn ein Wunsch sich nicht erfüllt hat.
Braucht es nicht ein Ziel, eine Mission, einen roten Faden für die berufliche Laufbahn?
Doch, aber diese kristallisiert sich erst heraus, indem man seinen Neigungen, Interessen und den Opportunitäten folgt. Das Leben funktioniert nicht linear, sondern organisch. Bei vielem verstehen wir erst im Rückblick, warum es wichtig war. Ich habe mich früh für Schul- und Erziehungsfragen interessiert und konnte mich in meiner Dissertation ausführlicher damit beschäftigen. Später wurde es zu einem Teil meines Berufs. Indem wir unseren Interessen folgen und Gelegenheiten wahrnehmen, kreieren wir unser Leben – im Idealfall. Oft lassen sich Menschen leider von ihren Interessen abbringen, weil sie auf Leute hören, die ihnen sagen, was sie zu tun haben.

Wenn Sie in einem Satz beschreiben müssten, wofür Sie täglich zur Arbeit gehen, wie würde dieser Satz lauten?
Mein Hauptanliegen besteht darin, das Bildungssystem zu transformieren in Richtung eines umfassenderen Verständnisses von menschlichen Fähigkeiten und Kreativität. Das betrifft nicht nur die Schule, sondern unsere ganze Gesellschaft. Wir können die aktuellen Herausforderungen nicht mit dem traditionellen linearen und deduktiven Denken bewältigen, das in der Vergangenheit geholfen hat. Es braucht eine Vielzahl an motivierten und kreativen Köpfen, die neue Antworten finden.