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«Ich fühlte mich in einem goldenen Käfig»

Veröffentlicht am 01.07.2016
«Ich fühlte mich in einem goldenen Käfig»
Karrieretechnisch war Anaïs Sägesser auf der Überholspur. Doch Status und Geld reichten der 37-Jährigen nicht. Sie wollte die Welt verbessern und gründete eine Schule.

Interview: Mathias Morgenthaler
 
Frau Sägesser, Sie haben an der Hochschule St. Gallen einen Doktortitel erworben und später als Beraterin und Managerin Karriere gemacht. Warum sind Sie ausgestiegen?

ANAÏS SÄGESSER: Ich habe mich schon sehr früh von der Sinnfrage leiten lassen. So nahm ich ein Wirtschaftsstudium an der HSG in Angriff, weil ich dachte, es könne nicht schaden, die Instrumente der Mächtigen zu beherrschen, wenn man etwas verändern will auf dieser Welt. Ich konnte dann allerdings wenig mit den Denkansätzen anfangen, die uns damals vermittelt wurden. So schloss ich das Studium in der Minimalzeit von vier Jahren ab und hängte zwei Jahre Religions- und Islamwissenschaften an. Gleichzeitig nahm ich die Dissertation in Angriff, in der ich der Frage nachging, wie sich Kultur auf die Übernahme von Informationstechnologie in der Arabischen Welt auswirkt. Während der Dissertation stieg ich auch als Unternehmensberaterin in die Berufswelt ein.

Warum machten Sie danach Karriere, ohne es darauf angelegt zu haben?

Als Angestellte in der Unternehmensberatung konnte ich zwar analytisch arbeiten, aber inhaltlich fand ich das wenig befriedigend. So machte ich mich nach Abschluss der Dissertation mit meiner Beratungsfirma selbständig. Ein halbes Jahr später erhielt ich ein Stellenangebot von meiner Kundin SwissRe direkt auf Stufe Vice President, mit noch nicht einmal 30 Jahren. Die konzeptionelle Arbeit dort fiel mir leicht und es machte mir Spass, mit so vielen hochintelligenten Menschen zusammenzuarbeiten. Nach knapp zwei Jahren hatte ich aber genug. Mir kam es vor, als würden wir uns alle in einem goldenen Käfig bewegen. Immer öfter hatte ich das Gefühl, meine Zeit nicht sinnvoll einzusetzen und nichts zu tun, was von direkter gesellschaftlicher Relevanz wäre.

Das war in der Unternehmensberatung oder im Rückversicherungsgeschäft nicht möglich?

Für mich persönlich nicht. Dort wo ich mich bewegte, ging es ausschliesslich darum, die Performance eines bestimmten Unternehmensbereiches zu verbessern. Ob damit auch die Lebensqualität vieler Menschen verbessert wurde, war nie Thema. Deshalb kündigte ich nach zwei Jahren bei Swiss Re. Ich suchte einen Weg, mich in den Dienst der Menschheit zu stellen.

Sie hatten keinen Plan?

Nein. Ich gab mir einfach zwei Jahre Zeit und thematisch die Vorgabe «Klimawandel». Als Erstes reduzierte ich meine Lebenskosten drastisch, um frei zu sein bei der Beantwortung der Frage, was ich wirklich brauche und will. Nach den ersten Stellenabsagen begann ich, mich intensiv in die Klima-Thematik einzuarbeiten, engagierte mich in Freiwilligen-Programmen, belegte Vorlesungen in Umweltwissenschaften. Es dauerte fast ein Jahr, bis ich die erste bezahlte Stelle fand.

Sie stiegen dann als Business Coach beim Schweizer Ableger des internationalen Netzwerks Climate-KIC ein, das Innovationen und Unternehmertum zur Verlangsamung des Klimawandels fördert. Fünf Jahre später – zwei Jahre, nachdem Sie die Leitung des Schweizer Programms übernommen hatten – zogen Sie weiter. Warum halten Sie es nirgends länger aus?

Wir konnten da einiges bewegen und Climate-KIC ist eine tolle Initiative mit vielen grossartigen Menschen und Resultaten. Mich beschäftigte aber weiterhin die Frage, wo ich persönlich am meisten bewegen kann. Ich kam zum Schluss, dass mehr technologische Innovation keine befriedigende Antwort auf die grossen Herausforderungen ist. Es ist ein Trugschluss zu glauben, die Technologie löse alle Probleme. Was bringen effizientere Motoren, wenn unsere Autos immer schwerer werden? Die Grundfrage ist nicht, was wir technisch verbessern können, sondern wohin wir als Gesellschaft wollen, was unsere Werte, Ziele und Glaubenssysteme sind, nach denen wir uns ausrichten.

Offenbar wollen wir konsumieren und unseren Wohlstand maximieren.

Mein Menschenbild ist ein anderes. Ich bin überzeugt, dass jeder tief in seinem Innern weiss, was gut ist und uns gut täte. Nur sind viele Menschen nicht in Verbindung mit sich selber; sie verausgaben sich bei der Arbeit und lenken sich mit Konsum von den wesentlichen Fragen ab. Oder sie kapitulieren früh, weil sie das Gefühl haben, es spiele keine Rolle, wie sie sich verhalten, sie könnten ohnehin nichts bewegen. Ich glaube, dass jeder Mensch wichtig ist und etwas verändern kann, wenn er ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt, gute Netzwerke bildet und sich die Instrumente aneignet, um unternehmerisch etwas bewegen zu können.

Was heisst das konkret?

Ich bin überzeugt, dass es andere Ausbildungsformen braucht. An vielen etablierten Schulen wird nach wie vor in erster Linie Wissen vermittelt. Expertenwissen ist heute für alle zugänglich in teilweise sehr gut aufbereiteter Form. Schulen sollten deshalb das vermitteln, was wir nicht googeln können.

Und deshalb haben Sie kürzlich eine eigene Schule gegründet?

Nicht eine Schule sondern eine unSchool namens Stride, die erste unSchool for Entrepreneurial Leadership. Wir starten im Oktober mit einem berufsbegleitenden Einjahresprogramm, das ebenso auf die persönliche Weiterentwicklung der Absolventen abzielt wie auf die Befähigung zum wirkungsorientierten Unternehmertum. Mindestens so wichtig wie das Lernen wird das Umsetzen sein. So sollen die Absolventen nach etwa einem halben Jahr gemeinsam Unternehmen gründen und am Markt erproben, was ihre Ideen taugen.

Und warum nennen Sie das Ganze eine unSchool?

Wer neue Wege gehen will, tut gut daran, mit kindlicher Neugierde noch einmal alles in Frage zu stellen, sich nicht damit abzufinden, dass die Dinge nun einmal sind, wie sie sind. Mit meinen Mitgründern Niels Rot und Björn Müller will ich die Lernenden auf ihrem Weg begleiten und ihre persönliche Transformation unterstützen.

Wen wollen Sie mit dem Lehrgang ansprechen?

Erfahrene, erfolgreiche Berufsleute zwischen 30 und 45, die sich vermehrt die Frage stellen, ob das jetzt alles war oder wie sie ihrem Leben mehr Sinn und Tiefgang geben könnten. Aber auch Menschen im letzten Drittel ihrer Berufslaufbahn, die nochmals was Neues anpeilen möchten oder müssen und keine Lust haben, die restlichen Berufsjahre als Berater zu arbeiten. Es ist so schade, wenn man aus Angst oder Ratlosigkeit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Ich selber bin heute viel glücklicher als auf dem Einkommenszenit vor sechs Jahren. Ich bin nicht mehr nur intellektuell leistungsfähig, sondern bin durch Praktizieren von Yoga, bewusstes Atmen und unternehmerische Erfahrung in Verbindung mit mir und meiner Umwelt gekommen. Und ich habe ein gutes Gefühl dafür gewonnen, was wirklich wichtig ist: nicht Kontostand oder Status, sondern dass ich durch meinen selbst gewählten Weg etwas Sinnvolles tun kann.

 
Kontakt und Information:
www.stride-learning.ch oder anais.saegesser@stride-learning.ch

Anaïs Sägesser: «Schulen sollten primär das vermitteln, was wir nicht googeln können.»