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«Unsere Ängste spielen uns einen Streich»

Veröffentlicht am 15.01.2016
«Unsere Ängste spielen uns einen Streich»
Die ersten Traumberufe liess sie sich ausreden, doch dann traf Sigrun Gudjonsdottir in einem Schneiderkurs auf lauter Frauen, die mit ihrem Schicksal haderten, und schwor sich, es besser zu machen. Die Isländerin studierte Architektur, lernte programmieren, wurde Chefin einer Softwarefirma. Im Interview erzählt sie, woher ihr Mut kommt und wie Björk sie inspiriert hat.

Interview: Mathias Morgenthaler
Frau Gudjonsdottir, Sie sind sehr erfolgreich mit Coachings und Online-Seminaren für Frauen und begleiten Ihre Kundinnen auf dem Weg «from passion to profit». Sind Frauen zögerlicher, wenn es darum geht, mit ihrer Leidenschaft Geld zu verdienen?

SIGRUN GUDJONSDOTTIR: Diese Erfahrung mache ich, ja. Männer haben in der Regel keine Hemmungen zu sagen: «Dieser Kurs kostet 2000 Dollar, ich bin ja ein Experte.» Frauen tendieren dazu, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob 500 Dollar nicht doch etwas viel sind. Das ist Bescheidenheit am falschen Ort. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche bietet für die Frauen hervorragende Möglichkeiten, ein gutes Business aufzubauen, ohne jeden Tag in ein Büro zu fahren. Ich mache heute das Meiste aus dem Home-Office in der Schweiz heraus, ein Computer, ein Mikrofon und eine Kamera reichen aus. Drei Monate lebe ich in Island, manchmal bin ich in Dubai oder Los Angeles. Für die Tausenden von Unternehmern, die an meinen Webinaren teilnehmen, macht das keinen Unterschied.

Wie kam es, dass Sie sich darauf spezialisierten, mit Frauen smarte Geschäftsmodelle zu entwickeln?

Die Frage nach dem Warum versteht man erst oft viel später. Vor ein paar Jahren hätte ich noch gesagt: Es war eine Verkettung vieler Zufälle. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es gibt immer ein «Why», das uns antreibt. Bei mir hat ein Jugenderlebnis die Weichen gestellt: Ich begann mit 13 Jahren, Kleider zu nähen. Mit 16 Jahren wollte ich professioneller werden. Also besuchte ich um 19 Uhr, direkt nach dem Gymnasium, einen Kurs bei einer erfolgreichen Schneiderin. Ich war die einzige unter 40 Jahren und wunderte mich über die Gespräche der älteren Frauen. Alle hatten sich von ihren Träumen verabschiedet und gaben scheinbar gute Gründe dafür an: die Hochzeit, die Familie, die Kinder, der dominante Chef etc. Ich schwor mir in diesem Kurs, dass mir das nie passierend wird; dass ich nie nach Ausreden werde suchen müssen, weil ich zu wenig mutig gewesen bin. Es ist nicht das Schicksal, das uns einen Streich spielt, es sind meistens unsere Ängste.

War wirklich dieses Erlebnis ausschlaggebend, als Sie später in die IT-Branche einstiegen und mutig den Chefposten anstrebten?

Es braucht immer viele Mosaiksteinchen. Eines ist meine Nationalität. Ich erinnere mich noch gut, wie 1980 in Island Vigdís Finnbogadóttir zur Präsidentin gewählt wurde. Sie war das erste demokratisch gewählte weibliche Staatsoberhaupt weltweit, nur neun Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Meine Mutter und ich gingen an diesem Tag zum Haus der neu gewählten Präsidentin, um zu applaudieren. Und ich dachte: Wenn diese Frau unser Land führen kann, dann stehen mir auch viele Türen offen. Und dann natürlich Björk, die Musikerin. Sie inspiriert mich bis heute. Ohne sie hätte ich mich wohl nicht getraut, meinen Vornamen zur Marke zu machen.

Wussten Sie früh, dass Sie eine Wirtschaftskarriere anstreben wollen?

Nein, in der Kindheit wollte ich Schriftstellerin werden. Ich war unglaublich stolz, als meine erste Kindergeschichte, die ich als Sechsjährige geschrieben hatte, am Radio gelesen wurde. Beim Schreiben war ich in meiner eigenen Welt und ganz in meinem Element, aber bald liess ich mich davon überzeugen, dass das kein richtiger Beruf sei und man nicht davon leben könne. Dann wollte ich Lehrerin werden – und sah kurz später, wie die Lehrer streikten, weil sie nicht von ihrem Lohn leben konnten. Damit hatte sich auch dieser Traumberuf erledigt. Meine Träume waren damals nicht stark genug, um den Ratschlägen der Älteren und den negativen Stimmen in meinem Kopf standzuhalten. Mit 11 Jahren schliesslich zeichnete ich leidenschaftlich gerne Traumhäuser. Mir war klar, dass ich Architektin werden wollte. Während eines Ferienaufenthalts in Freiburg schwor ich mir, neun Jahre später zurückzukommen und Architektur zu studieren.

Und daran haben Sie sich gehalten?

Ja, mit 20 Jahren reiste ich nach Freiburg, lernte ein Jahr lang Deutsch und studierte dann Architektur in Karlsruhe. Die Vision der 11-Jährigen war stark genug gewesen, um neun Jahre zu überstehen. Im Studium dagegen bröckelte meine Vision bald. Uns wurde vor allem vermittelt, was wir alles nicht können. Immerhin konnte ich während der Semesterferien in Island in Architekturbüros arbeiten. Dort wurden mir zwei Dinge klar: dass es ein sehr volatiles Business ist, in dem je nach Projektvergabe manchmal die Löhne nicht bezahlt werden können; und dass der grösste Teil der Arbeit nicht viel mit Kreativität zu tun hat. Zum Glück gab es damals, Ende der Neunzigerjahre, ein neues Thema, das mich vollkommen in seinen Bann zog: das Internet. Ich war hin und weg, machte meine Diplomarbeit an der Informatikfakultät und erhielt ein Stipendium für ein Nachdiplomstudium an der ETH in Zürich. Wir hatten dort schon vor 15 Jahren einen 3D-Drucker. Er war so gross wie ein Schulzimmer und konnte ein Miniaturhaus drucken.

Warum blieben Sie nicht an der ETH?

Ich kehrte aus familiären Gründen nach Island zurück und fand eine Stelle in einem Startup. Während andere einfach ihren Job machten, nervte ich meinen Chef mit Fragen wie: Woher kommt eigentlich unser Geld? Und warum können unsere Programmierer nicht programmieren? Es war das Ende der Internetblase, und kurz später war die Firma fast pleite und ich ohne Job. Ich absolvierte einen Unternehmerkurs, spielte mit dem Gedanken an die Selbständigkeit, nahm aber schliesslich eine Stelle in einem 20-Mann-Softwareunternehmen an. Wieder hatte ich Pech: Kein Jahr später wurde die Firma verkauft und ich machte mir Sorgen, dass der neue Besitzer einen Chef einsetzt, der die Verhältnisse nicht kennt. Ich erinnerte mich an die Geschichten im Nähkurs von damals und dachte: Was wäre, wenn ich mich um den CEO-Posten bewerben würde? Es gab sofort Stimmen, die das eine völlig verrückte Idee nannten – weibliche Stimmen in meinem Umfeld und die Stimmen in meinem Kopf. Die Männer dagegen ermutigten mich.

Und Sie bekamen den Job?

Ich schrieb eine zweiseitige Bewerbung und hörte danach erst einmal drei Wochen lang nichts. In dieser Zeit sind die negativen Stimmen immer lauter geworden. Dann besuchte der Investor ausgerechnet an jenem Tag unsere Firma, an dem ich extern unterwegs war. Ich machte seine Telefonnummer ausfindig, nahm all meinen Mut zusammen, rief ihn an und bat ihn um ein Gespräch. Er erschien dann gleich mit seinem Anwalt – zwei Wochen später hatte ich den Job. Hätte ich mich nicht so aktiv darum beworben, wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, mich zu fragen.

 
Kontakt und Information:
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Das ganze Interview
www.beruf-berufung.ch